Brief an Oma

Hin und wieder schreibt Ernst (Tenor) einen Brief an seine Oma.
Dann erzählt er, was er so macht, und wie es so läuft. Diesmal schrieb er über seinen Chor. Und um sicherzustellen, daß die liebe Oma keinen falschen Eindruck vom Chor bekommt, las Ernst den Brief beim Probenwochenende vor, damit auch jeder die Möglichkeit hatte, zu dem Geschriebenen Stellung zu nehmen.

Und auch wenn Ernst uns inzwischen bedauerlicherweise verlassen hat, gibt es die Korrespondenz noch im Internetz:


Liebe Oma,

Zu Deinem Geburtstag möchte ich Dir hiermit von ganzem Herzen gratulieren. Ich hoffe, es geht Dir gut, und daß Du noch recht viele Geburtstage feiern kannst.

Das Wetter in Aachen ist klasse. Es hat jetzt schon über 2 Stunden nicht geregnet (gut - ein paar Tröpfchen, aber die zählen ja nicht). Und ich kann das Wetter gut für meine spärlichen Freizeitaktivitäten nutzen.

Vom Büro will ich gar nix erzählen.
Beim Federball gibt's auch nix neues. und die Theatergruppe, da möchte ich mich schon gar nicht drüber aufregen.

Aber der Chor.

Da ist es ja soooo schön. Und wir singen ja auch so schöne Lieder. Du musst unbedingt mal zu einem Konzert von uns kommen. Das letzte war schon wieder so toll, das war diese Messe von dem Herrn Rossini.
Diese Messe haben wir ja schonmal aufgeführt. Mit Klavier und Harmonium. So ein Harmonium als Instrument, das könntest Du doch eigentlich noch kennen, oder? Sieht aus wie eine kleine Orgel, klingt aber eher wie ein altersschwaches Akkordeon. Du kannst Dir das vielleicht so vorstellen wie Fahrradfahren. Wenns richtig zur Sache geht, muß man tierisch in die Pedale treten, damit das Ding dann auch aus dem letzten Loch pfeift.
Aber während der meisten Zeit ist das Klavier so laut, daß man vom Harmonium gar nichts hört. Das ist an sich ganz pfiffig. Denn dann ist die Überraschung viel größer, wenn das Harmonium zu seinem Solo die Harmonie vom Klavier übernimmt. Das Harmonium spielt sein Solo dann oft nämlich einen Viertelton tiefer. Für heutige Komponisten nix besonderes, aber für von aus der Zeit von Herrn Rossini schon ziemlich modern - und auf einem Harmonium auch ziemlich schwierig zu intonieren.

Aber die schönsten Stellen sind doch die, wo der Chor singt.

Oma! Diese Frauenstimmen!

Wir im Tenor haben es ja ziemlich gut. Wir stehen da ja direkt hinter dem Sopran. Die können singen, sag ich Dir. Und alles Mädchen. Und so hübsche. Und die kleine Rothaarige erst. Weisst Du, Oma, ich glaube, der Sopran ist die schönste Stimme im ganzen Chor.

Und dann der Alt. Im Alt singen ja auch viele Mädchen. Eigentlich fast nur. Das klingt total schön, wenn die zusammen mit dem Sopran was singen, also nur Mädchenstimmen, glockenklare Mädchenstimmen. Und die sind vielleicht hübsch im Alt. Junge, junge. Ich glaube, Oma, die schönste Stimme im Chor ist eigentlich der Alt. Aber die sitzen schon ein bißchen weiter weg als der Sopran, hübsch sind sie aber auch sehr.

Ich singe ja beim Tenor mit. Tenor singen ist klasse. Man kann da richtig schmettern. Laut und hoch. Viele berühmte Sänger sind ja Tenor.
Der Tenor in unserm Chor ist toll. Unser Chorleiter, der Hermann, der findet das auch. Meistens singt er sogar aus lauter Begeisterung mit, dabei ist er eigentlich Bass. Hermann findet Tenor so klasse, daß er uns immer ganz besonders anfeuert. Manchmal möchte er sich sogar unsere Stimme ganz alleine anhören, weil wir so wichtige Töne singen. Dann singen wir dieselben schönen Takte wieder und wieder und wieder. Tenor ist wirklich auch wichtig in so einem Chor. Deshalb singen in unserer Stimme auch nur die besten mit. Ist wohl schade, daß da jetzt deswegen die Mädchen bei uns nicht mitmachen können.

Und dann ist da natürlich noch der Baß. Der Baß soll ja so einen Chor stützen. So von unten. Und das ist auch sehr wichtig. Aber ich glaube eigentlich, daß der Baß oft zu wichtig genommen wird. Ich meine, ein paar Quinten, das sind doch ganz einfache Intervalle. Das ist gar nicht schwierig, sowas zu singen. Stütze hin, Stütze her.
Ich glaube, das wissen die Typen aus dem Baß auch selbst. Die versuchen nämlich immer, den Tenor durch den Kakao zu ziehen. Immer machen die uns runter. Typisches Jungensgehabe. Nicht eine Gelegenheit lassen die aus, auf der anderen Jungensstimme rumzuhacken. Rufen ständig rein, wenn sie glauben gehört zu haben, daß einer unserer tollen Tenöre vielleicht einen seiner wichtigen Töne verfehlt haben könnte. Ein total armseliger Versuch bei den Mädchen Eindruck zu schinden, zu behaupten, die seien mehr wert als der Tenor. Die halten sich wohl für wer weiss was. Ausgerechnet die aus dem Baß! Pah, Oma. Pah!

Aber das sind wohl nur die schwarzen Schafe, die immer so gemein sind. Ein paar sind ja auch dabei, die singen auch schonmal beim Tenor mit, was ich natürlich gut verstehen kann, weil das ja auch die viel interessantere Stimme ist. Aber natürlich können die das gar nicht so gut.
Ein paar sind auch dabei, die würden viel lieber bei den Mädchen mitsingen. Früher haben die sich dann sogar direkt zwischen die Mädchen gesetzt. Heute passiert das natürlich nicht mehr, Oma. Ich glaube, da hat der Hermann damals knallhart durchgegriffen, daß das endlich aufhört. Dafür stellen sie jetzt beim Mitsingen aber dann immerhin noch fest, daß irgendeins von dem Mädchen vielleicht ein 'e' statt eines 'ge's gesungen hat. Weisst Du, Oma, das sind nicht wirklich wichtige Dinge, es sei denn in einem reinen C-Moll Dreiklang. Aber man muß die Leute im Baß auch verstehen.

Ja, der Baß... Man wird nix, wenn man da mitsingt. Die Neuen, die wir so kriegen, die fangen jetzt auch immer lieber im Tenor an. Kein Mensch will noch Baß singen.
Wenn man aber im Baß singen muss, da muss man sich noch was anderes einfallen lassen.

Der Carsten z.B. Der zieht sein Selbstwertgefühl eben nicht aus dem Baß, sondern der verwirklicht sich als Notenfritze. Hoermal, Oma, Du lachst. Aber der Notenfritze ist der totalallerwichtigste Job bei uns im Chor. Stell Dir doch nur mal vor: Ohne Notenfritzen hätten wir ja auch gar keine Noten. Und ein Sänger ohne Noten ist wie ein Leser ohne Buch - geht nich! Oder eine Lampe ohne Birne. Der Carsten sorgt auch für die Stifte. Oft möchte man sich ja mal eine lustige Kritzelei in die Noten malen. Oder man schreibt auf einen Zettel eine wichtige Nachricht für die kleine Rothaarige aus dem Sopran. Und dafür brauchen wir Stifte, und der Carsten ist dafür zuständig, daß wir auch immer welche haben. Und das ist auch wichtig. Stell' Dir vor, Oma: Ein Sänger, der sich keine Notizen machen kann, ist wie ein intellektueller Leser mit Buch, der sich keine Notizen machen kann. Ja, oder eben eine Lampe mit Birne ohne Schalter. Und davon hätte auch ein Leser mit Buch und Stift nix. Es wär dann ja zu dunkel.
Also, ohne den Carsten wären wir echt aufgeschmissen. Das muss man auch mal sagen.

Der andere Baß, der da noch versucht, durch etwas Engagement auf sich aufmerksam zu machen, ist der Georg. Auch Baß, ist klar. Muss ich wohl nicht noch mal erläutern, woran das jetzt liegt. Der Georg hat sich allerdings natürlich das Sahnestückchen rausgepickt. Während Carsten harte Arbeit verrichtet, ist Georg eher sowas wie der Vergnügungsausschuss. Der organisiert immer bloß so Weihnachtsfeiern. Oder wenn wir mal alle zusammen ein Wochenende wegfahren wollen, dann organisiert der die Unterkunft. Hotels vertraut man dem Georg noch nicht an, deshalb fahren wir immer bloß in so Herbergen.
Ja, und die dicke Kohle macht der Georg. Der sammelt immer von uns allen den Chorbeitrag ein, und das Geld für diese Wochenenden, wo wir immer so billig untergebracht sind. Ja, das kriegt alles der Georg. Und das merkt keiner, Oma. Der Georg, der sieht so nett und unschuldig aus. Aber in echt macht der total einen auf Macho bei den Mädchen. Immer was los bei Georg, und die dicken Scheine in der Tasche. Aber, Oma, die kleine Rothaarige aus dem Sopran, die fällt da nich drauf rein. So doof ist die nicht.
Naja, aber wollen wir mal nicht nur unfair sein. Immerhin verdanken wir Georg denn nun doch Weihnachtsfeiern und gemeinsame Wochenenden und sonstigen organisatorischen Kram, und dabei hat es auch noch nie größere Pannen gegeben. Und im Baß sitzt er am Ende auch weit genug weg. Ja!

Das sind so die Stimmen in unserm Chor.
Und was die Leute so draus machen, wenn sie sich hochdienen wollen.

Aber dann haben wir ja noch den Hermann. Das ist ja unser Chorleiter, also der, den man in unseren Konzerten immer nur von hinten sehen kann. Dabei wäre das gar nicht nötig. Sicher, mit dem Alt, oder gar mit dem Sopran kann der natürlich nicht mithalten. Aber wenn sich James Last erlauben kann, beim Dirigieren in die Kamera zu grinsen, dann kann unser Hermann das allemal. Nichts gegen James Last, Oma, aber wenn Du nur fünf Jahre jünger wärst - Du wüßtest wovon ich rede.

Und Sachen kann der, der Hermann. Oma, der hört einen Ton, z.B. wenn ein Stuhl über den Boden quietscht, und dann kann der direkt das ganze Konzert dazu am Klavier vorspielen. Gut, so kommen wir zwar nur wenig zum Proben, aber ich erkenne jetzt schon eine ganze Menge Konzerte an der Saalbestuhlung.

Und der hat auch schon viel erlebt, und hat eine Menge Ahnung. Der weiß unheimlich genau, welche Fehler auch so große Chöre normalerweise machen. Dann erzählt er so, wie er da auch schon selber überall mal mitgesungen hat, und was die dann so falsch gemacht haben. Wir werden wohl kein großer Chor werden, wir machen diese ganzen Fehler ja jetzt nicht mehr. Gut, bei uns singt Hermann ja auch nicht mit.

Manchmal erzählt Hermann auch einfach so irgendwas. Es wird nicht immer ganz klar, wie er nu ausgerechnet dann darauf kommt, aber er hat so eine bannende Art, daß man ihm einfach zuhören muß. Du solltest mal erleben, wie dann vor allem der Alt und erst der Sopran an seinen Lippen hängen, seinen amüsanten Ausführungen folgen und verschmitzt über die charmant gesetzten Pointen kichern. Oma, James Last - Pah! Und die Backstreet Boys kennst Du ja wahrscheinlich sowieso nicht.

Ich hab mal ausgerechnet, was der Chor mich an Geld spart. Wenn ich z.B. jeden Montag stattdessen eine Karte fürs Kabarett kaufen müsste....

Und ganz manchmal, wenn der Hermann wirklich gute Laune hat, wenn wir wirklich schön gesungen haben, und er mit uns zufrieden gewesen ist, wenn er dann glaubt, daß wir alle unsere Töne können, dann machen wir schonmal gemischte Aufstellung. Natürlich nur ganz kurz, Oma. Dann dürfen sich die Jungs nämlich beim Singen neben die Mädchen stellen. Das ist toll! Ich versuch' dann immer den Platz neben der kleinen Rothaarigen aus dem Sopran zu kriegen. Dann krieg ich oft gar keinen Ton raus. Deswegen trau' ich mich auch manchmal nicht. Aber ich hör ja so gern ihre Stimme, Oma.

Ui, Oma, jetzt hab ich ja wohl viel vom Chor erzählt. Ich hoffe, Du findest nicht, daß ich mich jetzt zu lange daran aufgehalten habe. Das nächste Mal schreibe ich Dir dann wieder was aus dem Büro.

Viele liebe Grüße,
Dein Ernst.

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